Entrechtung

„Der Hitler ist an unserem Haus vorbeigezogen mit dem Auto, und am Riemerplatz stand das Volk und brüllte den ganzen Tag »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Wir haben halt die Fenster fest zugemacht.“ (Olga Willner)



Am Abend des 11. März 1938 strömte eine Menschenmenge am Rathausplatz zusammen. Unter „Sieg Heil“Rufen wurden am Rathausturm zuerst eine kleine und schließlich eine große Hakenkreuzfahne gehisst. Die St. Pöltner Zeitung wurde am 14. März als nationalsozialistisches Parteiblatt „im Sinne der neuen Zeit“ weitergeführt. Sie berichtete höhnisch von privaten Überfällen auf Julius und Jakob Körner und Ernst Schulhof. Mitglieder der St. Pöltner SS drangen in die Wohnungen von Julius und Hilde Frischmann, Betty Frischmann, Hermann Schwarz sowie Ernst und Rosa Schulhof ein und raubten Schmuck, Geld und Wertgegenstände. Die offizielle Bezeichnung dieser Raubzüge der ersten Tage war „Beschlagnahmungen“.

„Arisierung“

„Manche Volksgenossen sind sich über die Bedeutung der Judenfrage noch immer nicht im klaren. So manche drücken sich noch zum jüdischen Kaufmann hinein; manche verstohlen, andere offen. Merken Sie: Wer sich mit Juden im Hitlerstaat einläßt, der wird kurz oder lang die schärfsten Maßnahmen der NSDAP zu gewärtigen haben! Das ist Volksverrat, und Querulanten gehören an den Pranger!“ St. Pöltner Zeitung Nr. 30, 21.7.1938

Schon wenige Tage nach dem „Anschluss“ begann der offizielle Boykott der jüdischen Geschäfte. Im Auftrag der NSDAP legte die Stadt im September 1938 ein Verzeichnis aller jüdischen Betriebe und Geschäfte an. Bereits im Jänner 1939 gab es in St. Pölten keinen jüdischen Gewerbetreibenden mehr.



Hachschara

Schon in den Jahrzehnten vor der NS-Diktatur wanderten österreichische Juden und Jüdinnen aufgrund des Antisemitismus und aus zionistischer Begeisterung nach Palästina aus. Für die Einwanderung ins Land Israel (hebr. Alija), damals Britisches Mandatsgebiet, waren vor allem landwirtschaftliche und handwerkliche Fähigkeiten gefragt. Eine der Organisationen, die sich die entsprechende Schulung ihrer Mitglieder zur Aufgabe gemacht hatten, war der 1922 gegründete „Hechaluz“ (der Pionier).

Bemühen um Auswanderung

Entgegen der landläufigen Meinung, dass die meisten Juden den Ernst der Lage unterschätzt hätten, bemühten sich viele gleich nach dem „Anschluss“ um eine Ausreise. Artur Fantl-Brumlik aus Bischofstetten suchte bereits im Juni 1938 für sich, seine Frau Hilde und die Kinder Gertrude und Walter einen Bürgen in den USA. Diese verlangten nämlich ein Affidavit, eine Unterhaltsgarantie-Erklärung eines US-Bürgers, und setzte für das jeweilige Herkunftsland Einwanderungsquoten fest. Die Familie Fantl-Brumlik erhielt zwar schließlich das ersehnte Affidavit, bürokratische Schikanen der amerikanischen Botschaft verzögerten die Abreise aber derart, dass die Ausreise nicht mehr möglich war. Artur, Hilde und Gertrude Fantl-Brumlik kamen in Auschwitz um, nur Walter überlebte das KZ.



Fluchtorte

“[…] der Verlust unseres Landes, in dem wir sowohl wie auch unsere Vorfahren durch die Jahrhunderte immer lebten und das unsere Heimat war, war sehr schwer zu ertragen.“ (Eva Ullmann, geb. Grünwald)

St. Pöltner Jüdinnen und Juden flüchteten in die Tschechoslowakei, nach Belgien, Frankreich, Großbritannien, in die Schweiz und nach Ungarn, in die Niederlande, nach Südamerika und Australien, Belgisch Kongo und Shanghai und natürlich nach Palästina und in die USA.



Soldaten für die Freiheit 

„Ich wollte dem Feind ins Auge sehen“ (Alfred Ratcliff, geb. Rosenstingl)

Einige St. Pöltner Juden, darunter Arthur Allina, Viktor Hahn und Hermann Weinstein, meldeten sich in ihrem Exilland Groß­bri­tannien oder Palästina freiwillig zur British Army und kämpften für die Befreiung von der NS-Herrschaft.