Das Novemberpogrom
„Mitten in einer deutschen Stadt – und das ist doch Sankt Pölten, oder nicht? – erhebt sich da ein morgenländisches Gebäude, krause Schriftzeichen »zieren« seine Vorderfront und ein Stern erhebt sich auf der Kuppel, den wir in unserem Himmel gerne entbehren. Wenn dieser Bau einmal ohne Sinn und Zweck dasteht, und das wird er bald (es ist klar, hier ist die Ostmark beispielgebend), dann wird er einem »repräsentativen« Gebäude Platz machen!? Ist es uns gelungen, das Geschäftsleben in unserer Stadt von Fremden zu säubern, so müssen auch die äußeren Erscheinungen folgen.“ Diese unverhohlene Aufforderung zur Zerstörung der St. Pöltner Synagoge schrieb der St. Pöltner Anzeiger bereits am 5. November 1938.
Die Ermordung des deutschen Botschaftsrats Ernst vom Rath in Paris durch den 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 war für Hitler ein willkommener Anlass, den „spontanen Volkszorn“ gegen jüdische Geschäfte, Wohnungen, Gotteshäuser und Menschen loszulassen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 drangen mehrere Personen, wahrscheinlich Angehörige von SA und SS, in das Kantorhaus neben der Synagoge ein, legten Feuer und zerschlugen die Fensterscheiben.
Am Vormittag des 10. November erschien angeblich ein SS-Standartenführer aus Krems, um die Zerstörung der Synagoge zu organisieren. Vor dem Gebäude versammelten sich 300 bis 400 Personen, teils in Uniform, teils in Zivil, unter ihnen Angehörige von SA, SS, HJ und Reichsarbeitsdienst sowie St. Pöltner Schüler unter Führung ihrer Lehrer. Der St. Pöltner Anzeiger vom 16. November 1938 berichtete anerkennend, dass es einigen „Wagemutigen“ sogar gelungen sei, „das Abzeichen Judas, den Davidstern, das getreue Abbild des Sowjetsterns, von der Kuppel zu entfernen.“
An diesem Vormittag wurde das Innere der Synagoge unter dem Absingen politischer Lieder vollständig zerstört. Die Fenster wurden eingeschlagen, die Inneneinrichtung und die Thorarollen verbrannt, Wasserleitungsrohre, Beleuchtungskörper und Türpfosten aus den Wänden gerissen. Bücher und Akten wurden auf die Straße geworfen, mit Benzin übergossen und unter Bravo-Rufen verbrannt. Der St. Pöltner Sicherheitsdienst berichtete an den SD-Unterabschnitt Wien: „Die Aktionen gegen die Juden werden von der Bevölkerung durchwegs mit Zustimmung aufgenommen.“ Einzelne Schaulustige äußerten jedoch ihr Unbehagen: „Naja, man soll ihnen schon ihren Glauben lassen.“
Von dem gesamten beweglichen Vermögen der Israelitischen Kultusgemeinde St. Pölten blieben „2 oder 3 Silberbecher, 1 silberne Hand (Thorazeiger) und 2 Thorarollen.“ Der Verbleib dieser Gegenstände ist ungeklärt. Einige Bestände des Archivs der Kultusgemeinde wurden in das Stadtarchiv St. Pölten gebracht. Das schwer beschädigte Gebäude wurde gegen den Zutritt Unbefugter abgesichert.