Fluchtorte

“[…] der Verlust unseres Landes, in dem wir sowohl wie auch unsere Vorfahren durch die Jahrhunderte immer lebten und das unsere Heimat war, war sehr schwer zu ertragen.“ (Eva Ullmann, geb. Grünwald)

St. Pöltner Jüdinnen und Juden flüchteten in die Tschechoslowakei, nach Belgien, Frankreich, Großbritannien, in die Schweiz und nach Ungarn, in die Niederlande, nach Südamerika und Australien, Belgisch Kongo und Shanghai und natürlich nach Palästina und in die USA.



Die Emigration in europäische Staaten war vom Erhalt eines Visums abhängig, das selten und nur unter bestimmten Voraussetzungen erteilt wurde. Die Schweiz und die Tschechoslowakei machten ihre Grenzen sehr rasch dicht. Traditionelle Einwanderungsländer wie Australien, Kanada und die südamerikanischen Staaten litten noch unter der Weltwirtschaftskrise und weigerten sich, mittellose Juden aufzunehmen.  

USA
Irma Salus, die Tochter des Lederwarenhändlers Richard Lustig, erhielt bereits im Juni 1938 die lebensrettenden Papiere und wurde 1943 amerikanische Staatsbürgerin. Auch ihre Schwester Rosa Kubin verließ Österreich bereits im Sommer 1938. Nach längerer Arbeitssuche erhielt sie schließlich eine Stelle als Chemikerin an der an­gesehenen Middlesex-University (heute Brandeis) an der Fakultät für Veterinärmedizin.

Bolivien
Ernst Medak aus Wien fuhr im September 1938 unter dem Vor­wand einer Geschäftsreise nach Paris. In seinem Pass stand der Ver­merk „für das Deutsche Reich“ und er war noch nicht mit dem „J“ gekennzeichnet. Seine Frau Rosa aus der Viehofener Familie Frank reiste ihm nach. Gemein­sam fuhren sie über Frankreich und Spanien nach La Paz in Bolivien, wo es bereits eine jüdische Niederlassung gab. Die Eingewöhnung war schwierig: Unter den Emigranten brach eine Typhus­­epidemie aus, denn viele waren durch das ungewohnte Klima und Essen geschwächt. „Die Europäer halten die Höhe nicht aus“, sagte der behandelnde bolivianische Arzt.

Ernst Medak hatte schon in Wien Miederwaren erzeugt und richtete mit einem Kolle­gen in Cochabamba eine Strickwaren­erzeugung ein. Er lernte fünfzehn indogene Frauen an und fertigte Pullover, Westen und Baby­kleidung. Rosa Medak sprach ein „Kuchlspanisch wie das Kuchl­böhmisch der Wiener Dienst­mädchen“, ihr Mann konnte sich sehr gut verständigen.

Nach der geglückten Existenzgründung richtete Rosa Medak mit einer Freundin eine Buchhandlung und Leihbücherei ein, die antiquarische Bücher und Neu­erscheinun­gen führte. 1948 versuchten Ernst und Rosa einen Neuanfang in Wien, es war aber un­mög­lich, „auch nur eine Nähmaschine zu besorgen“. Erst 1957 kehrte das Ehepaar endgültig nach Wien zurück.

Shanghai
Als offene Stadt gewährte  Shanghai jedem Einwanderer Zu­flucht. Das bedeutete für Tausende Juden die letzte Rettung vor der Vernichtung. Im Dezember 1941, nach dem Einstieg Japans in den Krieg, verschlechterte sich die Lage der Flüchtlinge. Die mit den Deutschen kollaborierenden Japaner konzentrierten die Juden in geschlossene Wohnbezirke. Dennoch war das Über­leben, wenn auch unter schwierigsten Umständen, möglich. Von St. Pölten über Triest nach Shanghai flohen unter anderen die Familien Grünwald und Willner.

„Ich bin dann mit der Mutti ja vier Wochen später gefahren als der Vati. Ich war eine glühende Patriotin, das bin ich noch heute, keine Nationalistin, aber eine Patriotin. Ich hab also nur geheult, geheult, geheult, und der Schaffner ist immer wieder kommen und hat mich getröstet. Und nicht lang vor der Grenze ist er gekommen und hat gesagt: »Jetzt hams es bald überstanden«.“ (Olga Willner)

Dr. Willner hatte sich bereits vor dem Krieg taufen lassen und konnte daher im Missions­hospital Yenchow als Arzt arbeiten. Durch einen Unfall erkrankte er schwer und wurde nicht wieder erwerbsfähig. In der da­raus folgenden materiellen Not musste Olga Willner neben dem Studium ihre Eltern erhalten.

„Meine Eltern haben sich nie eingelebt in China […] Ich hab mich sofort und wunderbar eingelebt. Ich hab überhaupt mit Begeiste­rung dort gelebt. Und ich muss eines sagen, ich wäre nie, nie mehr von Chi­na weggegangen, wenn der Mao Tse Tung nicht gekommen wäre.“